Stellen Sie sich vor: sie sind sechzig Jahre alt und Ihr Leben ist ein Haus, in dem Sie sich gut eingerichtet haben. Wie sieht es in diesem Haus aus? Gut geordnetes Interieur oder Chaos? Gähnende Leere oder üppige Gemütlichkeit? Klare Linien oder so viel Dinge, dass Sie den Boden nicht mehr erkennen können?
Möchten Sie gern hier wohnen?
Jede große Veränderung im Leben stellt uns diese Frage, vor allem, wenn Sie sich aus der Arbeitswelt zurückziehen. Der Schritt in diese Lebensphase ist für viele Menschen doppelt besetzt: im Vordergrund oft das – jetzt kann ich endlich machen, was ich will und hab Zeit und Raum für mich – im Hintergrund, der meist nach einiger Zeit zum Tragen kommt: das Leben ist vorbei. Das ist die letzte Phase. Nichts wird mehr besser, weder Gesundheit noch die finanzielle Lage. Dazu kommt die existentielle Frage: was tun mit dem Rest meiner Lebenszeit, die noch lange dauern kann?
Vor dem Rückzug aus der Arbeitswelt haben wir einen geordneten Alltag, Verantwortung, klare Aufgaben, soziale Kontakte mit den Kollegen, oft auch einen gewissen Status, durch den wir uns definieren. All das fällt nach Antritt der Pension weg. Dazu kommen körperliche Veränderungen: gesundheitliche Einschränkungen werden wahrscheinlicher, Heilung dauert länger und erfordert mehr Geduld.
Das kann zu einer Lebensveränderungskrise führen, die nicht selten in eine Depression mündet.
Fühlen Sie sich angesprochen? Sehen Sie das Leben in all den leuchtenden Facetten nicht mehr, weil Sie nur noch grübeln und in der Vergangenheit leben? Das Gefühl der Einsamkeit, Verlust von Würde und Wert, eine gewissen Entfremdung und Distanz zu Ihrer Familie – sind das Emotionen, die Sie kennen? Lassen Sie Erlebnisse und Muster aus Ihrer Vergangenheit nicht los und geraten Sie dadurch in negative Gedankenspiralen?
Nehmen Sie überhaupt noch am Leben teil?
Im Alter sind wir dazu aufgerufen, uns jenseits der banalen Schlagzeilen der “munteren Senioren/innen” und “junggebliebenen Omas/Opas” neu zu erfinden. Dazu gehört nicht nur das Finden neuer Betätigungsfelder und das Lernen von Neuem, sondern auch die Erkenntnis, dass die alten Bewältigungsmuster und Copingstrategien, die uns bisher durchs Leben getragen haben, nicht mehr sinnvoll sind und uns nicht weiterhelfen.
Auf zu neuen Ufern? Aber ja! Bleiben Sie wissbegierig und neugierig. Wählen Sie die Menschen, mit denen Sie Kontakt pflegen, sorgfältig aus. Die Zeit für nutzlose Oberflächlichkeit und Kompromisse ist endgültig vorbei.
Und denken Sie daran: “Du bist ja so jung geblieben!” ist oft ein zweischneidiges Kompliment. Wer will sich in fortgeschrittenem Alter schon an die Lebensformen der Jungen anpassen? Ist das nicht schrecklich anstrengend und darüber hinaus auch ziemlich banal?
“Wenn ich alt bin, will ich so sein wie du!” Das wäre ein Kompliment, das ich wirklich als ein solches empfinde.